Die drei äschernen Weisheiten
Eine lange vergessene Referenz des Buches »Voshushkar« der »Schmiede der Würdigen« aus einer Kindergeschichte, deren Ursprung nicht gänzlich geklärt worden ist.
Es war ein Mal ein junger Pariah, der sich nach einem Sinn im Leben sehnte. Er lebte in einem Klan, dessen Namen keine Bedeutung mehr hat.
Der junge Pariah war schwach auf viele Arten. Er konnte nicht schmieden, da ihm die Hitze unangenehm war. Er konnte nicht jagen, da ihm die Tiere leidtaten. Er konnte nichts mit seinen Händen erschaffen, weil es ihn zu sehr erschöpfte die Werkzeuge zu führen. Doch er liebte das Lesen und das Schreiben. Auch wenn es ihm nicht leicht fiel.
In seinem Klan, dessen Name keine Bedeutung mehr hat, sah man ihn oft zwischen den wenigen Bücherregalen der Weisen Frau hocken. Man sah, wie er sich oft davonschlich. Man sah, wie er sich Bücher nahm. Man erwischte ihn, wie er darin las.
Zunächst fanden es einige aus dem Klan, dessen Name keine Bedeutung mehr hat, witzig. Zunächst witzelte man darüber, dass er vielleicht das Balg des Häuptlings und der Weisen Frau war, was oft mit Schlägen vom Ersteren vergolten worden ist. Zunächst ignorierte man das Verhalten des jungen Pariah. Doch das bliebt nicht immer so.
»Mauloch schenkte dir Hauer, also jage sie in das Fleisch der Tiere!«, sagte man dem jungen Pariah, wenn er nicht jagen wollte. »Mauloch schenkte dir starke Arme, also schmelze Orichalcum zu Waffen!«, sagte man ihm, wenn er mit Furcht in den Augen zu den Schmieden blickte. »Mauloch gab die dicke, pockige Haut, also nutze sie und bearbeite Holz!«, sagte man ihm, wenn er sich nach wenigen Minuten an der Schreinerbank erschöpft hinsetzte.
Doch das alles nutzte nichts und aus dem jungen Pariah, dem man lachend beim Lesen beobachtete, wurde ein Pariah, der nichts als Verachtung erntete, wenn er seinen Verstand mit Worten düngte.
In einem der Bücher, die der junge Pariah einem fahrenden Händler abkaufte, las er von der Reise eines Mer, der sein Glück fernab seiner ursprünglichen Heimat fand. In einem der Bücher, die der junge Pariah dem fahrenden Händler abkaufte, fand er die Inspiration für sein Leben. In einem der Bücher, die der junge Pariah der Weisen Frau abnahm, fand er die Pflichten der Pariah und wusste, dass er diese nie erfüllen konnte.
»Ach weh!«, rief der junge Pariah still in sich hinein. »Wie kann ich meinem Klan nur zu Diensten sein, wenn ich nur das kann, was die Weise Frau kann? Ich kann Kräuter zu Tränken und Salben mischen. Ich kann Bücher nach Wissen durchforsten. Ich kann Probleme mit meinem Verstand lösen. Nur nicht dieses!«
Die Jahre zogen einher und mit jedem Tag wurde der junge Pariah unglücklicher. Einsamer. Verzweifelter.
Irgendwann, als der Häuptling des Klans, dessen Name keine Bedeutung hat, von seinem jungen Sohn ersetzt wurde, wusste der junge Pariah, dass er nicht mehr glücklich sein würde. War doch dieser junge Sohn der, der den jungen Pariah oft schlug. Oft beleidigte. Oft auslachte. Nie würde der junge Pariah unter dem jungen Sohn ein Glück finden. Doch dann erwies ihm der junge Sohn ein Geschenk, wie er es nie erwartet hatte.
»Verzieh dich, du hauerloser Taugenichts!«, rief der junge Sohn, der jetzt der junge Häuptling war. »Niemand braucht einen Pariah, der nicht schmieden kann, weil ihm die Hitze unangenehm ist. Niemand braucht einen Pariah, der nicht jagen kann, weil ihm die Tiere leidtun. Niemand braucht einen Pariah, der nichts erschaffen konnte, weil es ihn erschöpfte. Geh, junger Pariah und finde dein Glück woanders. Denn hier findest du nur den Tod.«
Der junge Pariah spürte die Blicke der anderen Pariah, die erwarteten, dass er sich wehrte, dass er sagte: »Ich kann sehr wohl jagen, junger Häuptling. Ich kann sehr wohl schmieden, junger Häuptling. Ich kann sehr wohl etwas erschaffen, junger Häuptling!« Doch es wäre gelogen und so zog sich der junge Pariah in sein Zelt zurück, das kleinste im Klan, dessen Namen keine Bedeutung hat, und nahm seine wenigen Sachen zusammen.
Mit den Blicken der Pariah ging er zum Rand seines Klans. Hier sah er nur Verachtung in den Augen der Pariah. In allen, bis auf einem einzigen Paar. Die alte Weise Frau verneigte sich und sagte: »Es tut mir leid, junger Pariah, dass diese Welt nicht für jemanden wie dich gebaut worden ist.« Sie drückte ihm, trotz der Blicke der anderen Pariah, ein Bündel in die Hand. Trockenfleisch, dass in ihrer Hütte aufgehängt worden war. Tränke aus Kräutern, die der junge Pariah auswendig kannte. Und ein kleines Messer, dass gerade leicht genug für den jungen Pariah war. Und so endete das Leben des Pariah vom Klan, dessen Namen keine Bedeutung hat.
Er wanderte durch die eisigen Einöden von Orsinium. Ging weiter, als er je von seinem Klan, dessen Namen keine Bedeutung hat, getrennt war.
Er sah Hügel und Berge. Täler und Schluchten. Flüsse und das Meer. Er fand Straßen, die von Händlern bereist wurden. Er fand Lager von Leuten, denen er Fern blieb. Er fand Pflanzen und Kräuter, die er nur getrocknet oder als Zeichnung aus den Büchern der Weisen Frau kannte.
Angst mischte sich oft mit Aufregung. Freude mit Panik. Wissensdurst mit Überlebenswillen.
Und so lebte der junge Pariah von dem, was er fand und von dem er wusste, dass er es essen konnte. Kräuter und Pilze. Beeren und Wurzeln. Verlassene Eier und tote Vögel.
Er lebte Tag ein und Tag aus in der Wildnis, lief auf den Straßen und auf einer jener Straßen aus einer Zeit des großen Königreiches Orsinium, sah er einen Mann. Einen Anderen. Er war grünhäutig wie er. Pockenhäutig wie er. Stoßzähnig wie er.
Vorsichtig näherte sich der junge Pariah dem Anderen und sagte: »Gruß Euch!« Der Andere wandte sich um, offenbarte sein vom Alter gezeichnetes Gesicht.
Der lange, weiße Bart wackelte, als der in pechschwarzem Metall gerüstete Andere sagte: »Ausrauben willst du mich nicht, oder?«
Sofort hob der junge Pariah die Hände in die Höhe. »Ausrauben will ich Euch nicht.«
Ein tiefes Grollen entwich dem Alten, als er seine müden Hände auf den Griff seines im Boden steckenden Bidenhänders ausruhte. Der junge Pariah sah Blut an der Klinge. Alt und getrocknet.
»Was tut ein Pariah wie du in der Ferne wie hier?«, fragte der Alte erschöpft. »Wo ist dein Klan?«
Der junge Pariah setzte sich neben dem Stein, auf dem der Alte ruhte. Er erzählte ihm von dem Klan, dessen Name keine Bedeutung hat. Wie er dort lebte und litt. Las und fürchtete.
Das Metall der dicken Panzerhandschuhe des Alten knarzte, als er seine Finger um den Griff seiner Waffe legte. Die andere Hand griff hinter ihn und er nahm etwas heraus.
Der junge Pariah konnte seinen Augen kaum glauben. Ein Buch, klein und dick, lag in der Hand eines anderen Pariah. Der Alte reichte ihm das Buch.
»Lies es!«, sagte er. »Dein Klan ist alt aber nicht alt genug. Er ist vom Blute Maulochs aber nicht von seiner Asche.«
Das Buch war warm, der Einband grau. Das Bildnis einer zerbrochenen Urne wurde in das graue Leder geprägt.
»Die drei äschernen Weisheiten«, sagte der Alte, als würde er ein Gebet zitieren.
Der junge Pariah las das Buch und war verwirrt. Große Bilder, fein gezeichnet. Kunstvolle Beschreibungen, sorgsam gewählt. Er las und mit jedem Wort, dass seine Augen vernahmen, wurde alles um ihn herum friedvoller. Er hörte den Wind in den Blättern der Bäume, als er von der Güte der Asche las. Er roch die feuchte Erde, als er von dem Mitgefühl der Asche las. Er fühlte die Wärme in seiner Brust, als er von dem Wert der Asche las.
Die Seiten waren dick, hochwertig gedruckt und der junge Pariah fühlte eine Leere in sich, als er das Buch schloss.
»Du hast Fragen«, erkannte der Alte.
»Was ist die Güte der Asche?«
Der Alte antwortete: »Die Absicht, dem eigenen Volk Glück zu schenken. Du musst lernen, die schwächen aller Pariah zu lieben, wie du dich selbst lieben solltest. Du musst lernen, allen Problemen der Pariah zu begegnen, als wären es deine Eigenen. Du musst lernen, das Glück der Pariah zu umarmen, als wäre es dein Eigenes. Das ist die äscherne Güte.«
»Doch was ist das Mitgefühl der Asche?«
Und der Alte antwortete: »Mitgefühl ist die Absicht, allen Pariah das Leid zu nehmen oder zu lindern. Lerne, deinen Feinden zu vergeben und ihnen die Möglichkeit zu geben, für ihre Fehler zu büßen. Lerne die Schmerzen der Pariah spüren und ihnen die Möglichkeit zu geben, dass ihr Leid ernst genommen wird. Du musst lernen, das Leid anderer zu verstehen und ihnen die Möglichkeit zu geben, geheilt zu werden. Das ist das äscherne Mitgefühl.«
»Und was ist der Wert der Asche?«
Der Alte antwortete: Der Wert der Asche ist die Absicht, den Wert jedes Pariahs zu erkennen. Lerne, dass Mauloch jeden Pariah aus einem Grund in die Welt holte. Lerne, dass jeder Pariah ein Geschenk des Mauloch ist. Lerne, dass jeder Pariah am Ende in die Asche zurückkehrt und das die Asche heilig ist. Das ist der Wert der Asche.«
Plötzlich wog das Buch in der Hand des jungen Pariah so viel schwerer. Sein Verstand wollte dem Alten das Buch zurückgeben, doch sein Herz wollte dies nicht.
»Du bist klanlos und alleine. Führe dieses Buch mit dir so wie ich dich als Aschepriester führen und ausbilden werde«, sagte der Alte, stand unter dem Knarzen seiner Rüstung auf und steckte das Schwert zurück in die Scheide seines Rückens, ehe er losging.
Der junge Pariah betrachtete das Buch, sah, wie Seiten, die er vorher nicht gesehen hatte, gegen seine Finger drückten, als sie über den Buchblock strichen.
Der junge Pariah folgte dem Mönch und dankte ihm für seine Lehre und begann, die drei Äschernen zu üben. Er merkte, wie sein Herz sich öffnete und seine Sicht sich klärte. Er merkte, wie er Frieden und Freude in sich fand. Er merkte, wie er näher an die Erleuchtung kam.